Jörg Rosenstengel
Texter und Konzeptioner
Portrait © Katrin Biller
Wenn es um mitreißende Formulierungen geht ist Jörg Rosenstengel unser Mann. Der Texter und Konzeptioner hat nicht nur die Wortkreation echtwert entwickelt, sondern schreibt auch spannende Kriminalromane. Ein Gespräch über echte Werte, lesenswerte Bücher und den Spirit unserer Heimatregion.
EW: Jörg, erzähl uns doch mal wer du bist, was du machst und was dich antreibt.
JR: Ich bin Texter und Konzeptioner und arbeite seit 2001 in eigener Regie in erster Linie für mittelständische Unternehmen in unserer Region, zum Beispiel Carolinen, SULO, JAB Anstoetz, Conal und viele mehr. Von Haus aus bin ich staatlich geprüfter Philosoph und Literaturwissenschaftler. Das Schöne ist, dass ich in meinem Beruf beide Aspekte miteinander verbinden kann, nämlich den analytischen Verstand und den Ausdruck. Das heißt, ich muss zuerst verstehen, worum es geht und es dann sprachlich auf den Punkt bringen, am Besten in Form von Geschichten, die Menschen berühren und emotional mitnehmen. Denn was uns alle am meisten interessiert, sind Geschichten über Menschen und das, was sie oft gegen Widerstände, antreibt, Sinnhaftes und Schönes zu schaffen. Mich zum Beispiel treibt, seitdem ich denken, sprechen und lesen kann, die Philosophie im wörtlichen Sinne, nämlich als Liebe zur Weisheit. Ich wollte schon immer wissen, was die Story, bzw. der verborgene Sinn hinter den oberflächlichen Erscheinungen ist.
EW: Die Wortkreation „echtwert“ stammt aus deiner Feder. Was ist für dich ein echter Wert?
JR: Der Begriff Werte klingt schnell etwas angestaubt, nach Moral und erhobenem Zeigefinger. Dabei sind Werte das, was uns gerade in Zeiten des Umbruchs Orientierung gibt. Wenn eine Werteorientierung hinter unserem Tun steht, dann erhält es auch einen Sinn. Ich glaube diese Verankerung wird zunehmend wichtig für jeden einzelnen Menschen und auch für Unternehmen. Wir sollten uns intensiv mit der Frage beschäftigen, warum wir tun, was wir tun. Wollen wir es wirklich? Stehen wir morgens auf und gehen mit Freude ans Werk? Wenn wir auf das Warum keine Antwort haben, sind wir nicht viel mehr als Spielbälle in einem Spiel, das wir nicht durchschauen und das uns als Gemeinschaft in eine verhängnisvolle Richtung treibt. Nämlich in Richtung unreflektiertem Wachstums- und Konsumwahn mit all seinen sprichwörtlichen zerstörerischen Auswirkungen. Da wäre es im Grunde besser, gar nichts zu tun. Sich seiner echten, das heißt eigenen Werte zu vergewissern ist somit eine Form von Bewusstwerdung und Selbsterkenntnis, die unser Leben klarer, schöner und zufriedener werden lässt.
EW: Du bist Autor und schreibst spannende Kriminalromane. Welches Buch ist dein persönlicher all-time-favorit?
JR: Ich selbst lese eigentlich sehr wenig Krimis. Ich bevorzuge Bücher, die authentische, menschliche Erfahrungen zum Ausdruck bringen. Wenn das einem Autor stilistisch brillant und gleichzeitig leicht und natürlich gelingt, kann ich nur meinen Hut ziehen. Dann wird jede Seite kostbar, dann fühle ich zwischendurch immer, wie viele Seiten noch zu lesen bleiben und habe Angst, dass das Buch bald zu Ende sein wird. Für mich sind dies die Qualitätskriterien für ein ausgewöhnliches und lesenswertes Buch: 1. Ich muss dem Autor vertrauen, dass er mich nicht plötzlich im Stich lässt, d.h. dass seine Erzählweise konsistent bleibt und das, was er über viele hundert Seiten aufgebaut hat, nicht auf einmal in einer Sackgasse endet. Kurz gesagt: Ich muss das Gefühl haben, dass der Autor weiß, warum er das Buch schreibt. Da sind wir wieder beim Thema 😉 2. Ich muss für die Zeit der Lektüre in die Geschichte „einziehen“ können. Das heißt, die Geschichte bedarf eines gewissen Raums, nicht zu weitläufig, aber auch nicht zu eng, übersichtlich, aber nicht vorhersehbar. Mit vielen Zimmern, die sorgfältig eingerichtet sind, mit Details an denen ich mich erfreuen kann, Plätzen, an denen ich mich niederlassen und ausruhen kann und Orten, an denen ich in Wallung komme und Energie verspüre. So etwas muss man erstmal bauen, bzw. schreiben. Manche Geschichten sehen von außen vielversprechend aus, aber wenn du den Fuß über die Schwelle setzt merkst du ganz schnell, dass keine Substanz da ist und du gehst nach 20 Seiten wieder raus. Dann gibt es Geschichten, in denen du dich verirrst und nicht mehr weißt, wo du bist und wohin es eigentlich gehen soll. Andererseits ist es ebenso unerquicklich, wenn der Weg allzu deutlich ausgeschildert ist und die Absichten offensichtlich zu Tage treten, denn dann wird das dritte und vielleicht wichtigste Kriterium außer Acht gelassen, für das ich einen Großmeister, nämlich Gustave Flaubert zitieren möchte: 3. „Was mir als das Höchste in der Kunst erscheint (und als das Schwierigste) ist nicht Lachen oder Weinen hervorzurufen, nicht jemanden in Brunst oder Wut zu versetzen, sondern auf dieselbe Weise wie die Natur zu wirken, das heißt zum Träumen zu bringen.“
Meine 3 All-time-Favoriten:
Die Enden der Parabel, Thomas Pynchon
Unter dem Vulkan, Malcolm Lowry
Die Dame mit dem Hündchen, Erzählungen 1896-1903, Anton Tschechov
Bei anderer Gelegenheit erkläre ich gerne, was ich an diesen Büchern so beeindruckend finde.
EW: Worin liegt für dich die größte Herausforderung beim Schreiben?
JR: Es hört sich vielleicht banal an, aber das Wichtigste ist, das man etwas zu sagen hat. Das heißt, bevor man schreibt, sollte man erstmal recherchieren und nachdenken. Das ist der analytische Teil. Darauf folgt der intuitive. Wie kann ich den Inhalt nicht nur einfach runterschreiben, sondern Bilder im Kopf des Lesers erzeugen? Wie kann ich das Erwartete brechen, damit etwas Überraschendes entsteht? Picasso sagt: „Ich male die Nasen absichtlich schief, damit die Leute gezwungen sind, sie anzusehen.“ Auf diesem Weg entstehen zahllose Alternativen, denn es gibt unendliche viele Möglichkeiten einen Sachverhalt auszudrücken. Die größte Herausforderung besteht für mich letztlich aber nicht darin Alternativen zu produzieren, sondern ein Gefühl dafür zu entwickeln, welche Formulierung die ultimative ist. Der großartige Mark Twain hat es so ausgedrückt: „Der Unterschied zwischen einem nahezu richtigen und einem treffenden Wort ist groß – es ist der Unterschied zwischen einem Glühwürmchen und einem Blitz.“
EW: Woran arbeitest du gerade?
JR: Ich beschäftige mich zurzeit vor allem mit einem Unternehmensmagazin für die Reitz Group. Wir sind hier auch den Weg gegangen als erstes nach dem Warum zu fragen. Was ist das universelle Unternehmensziel? Nachdem wir das herausgearbeitet und formuliert haben, haben wir Geschichten aus dem Umfeld gesammelt, die im weitesten Sinne zeigen, was das Thema „Entwicklungsmöglichkeiten“ für Menschen im Unternehmen, für Kunden, Partner und Nutzer der Produkte bedeuten. Dabei rausgekommen sind tolle Stories und Portraits, die auf den ersten Blick nichts mit dem technischen Produkt Industrieventilator zu tun haben, sondern den Menschen in den Mittelpunkt rücken. Sehr spannend. In meinem nächsten Buch möchte ich gerne wieder in die 80er zurückgehen wie auch schon in „Wir waren die Guten“. Ein Punk und ein Sannyasin begegnen sich. Weiter weiß ich noch nicht.
EW: echtwert ist ein Ort für inspirierenden Austausch. Wer hat dich zuletzt inspiriert? Und womit?
JR: Ehrlich gesagt sehe ich momentan, Ende April 2020, nichts Inspirierendes, weil es zur Zeit nichts gibt, was man sich angucken könnte. Alle Museen, Geschäfte, Konzertclubs haben geschlossen. Ich hoffe sehr, dass sich das sehr, sehr schnell ändert und wir mit echtwert wieder inspirierende junge Marken und Events präsentieren dürfen.
EW: Du bist gebürtiger Ostwestfale. Was gefällt dir an der Region am besten und wie beeinflusst sie deine Kreativität?
JR: Ich komme aus der Großgemeinde Hiddenhausen bei Herford, bin im Alter von 20 nach St. Pauli geflüchtet, um der Jägerzaunmentalität der Kriegskindergeneration und der Vorstädte zu entkommen. Der Liebe wegen bin ich 2000 zurückgekommen und in Bielefeld gelandet. Und ich finde, hier hat sich in der Zwischenzeit enorm viel entwickelt. Ich schätze die Vielfalt des ostwestfälischen Unternehmertums und den Spirit des Mittelstandes. Ich würde diesen Geist als bodenständige Weltoffenheit bezeichnen. Hier spielen Werte, ohne dass sie bisher besonders thematisiert wurden, tatsächlich eine Rolle. Ich würde mich freuen, wenn ich zusammen mit meinen Kunden und Partner die besten Seiten dieser Unternehmenskultur sprachlich, gestalterisch und emotional auf ein neues Niveau bringen könnte.
EW: Was würdest du jedem empfehlen einmal auszuprobieren?
JR: Die Stille in sich als Quelle zu entdecken. Also kurz mal aufhören zu denken, zu planen, zu sorgen, sondern im Wald, am Meer, in der Bar, im Büro oder wo immer man sich wohlfühlt, den Augenblick wahrzunehmen und zu genießen.